Lesezeit: 10 Minuten
»Gaddafi hat unzählige Frauen vergewaltigt«

»Gaddafi hat unzählige Frauen vergewaltigt«

Interview

Das Buch »Niemand hört mein Schreien« gibt den Opfern von Muammar al-Gaddafis sexueller Gewalt eine Stimme. Autorin Annick Cojean traf bei ihren Gesprächen immer wieder auf Verleugnung, ungeheuerliche Wahrheiten – und Angst.

zenith: Was war das Ziel Ihrer Recherche, als Sie im Oktober 2011 erstmals nach Libyen fuhren?

Annick Cojean: Ich wollte herausfinden, welche Rolle die Frauen in der Revolution in Libyen gespielt haben. In Interviews und Dokumentationen konnte man überall sehen, wie kämpferisch die Frauen in Tunesien und auf dem Tahir-Platz in Ägypten waren. In Libyen – nichts davon. Mich interessierte, warum die Frauen hier nicht auftauchten. Ob sie sich versteckten – oder versteckt wurden. Und ob diese Leerstelle kulturell oder politisch bedingt war. Außerdem wollte ich wissen, wie die Frauen zur Revolution in ihrem Land stehen.

 

Wie standen sie denn zur Revolution?

Mir wurde rasch klar, dass die libyschen Frauen während der Revolution eine sehr wichtige Rolle spielten und sich enorm engagiert haben, indem sie zum Beispiel Rebellen gefahren und Waffen versteckt haben. Gleichzeitig zeigten die Gespräche, dass die Frauen mit Gaddafi eine Rechnung offen hatten. Da war ein Hass zu spüren, den ich anfangs nicht verstand. Und alle, die ich fragte – Anwälte, Frauen- und Menschenrechtsorganisationen – warnten mich: Seien Sie vorsichtig, die Frauen werden über die Gründe für diesen Hass nicht sprechen – es ist zu gefährlich für sie. Ich war schon fast resigniert, als ich per Zufall auf Soraya stieß. Sie war die erste, die mir gegenüber offen über Vergewaltigung gesprochen hat – nicht durch die Söldner Gaddafis während der Revolution, sondern durch Gaddafi selbst. Ich sah mich plötzlich mit einem ganz neuen Thema konfrontiert, nämlich der sexuellen Gewalt, die Gaddafi gegenüber Frauen ausgeübt hat.

 

Wie kam es, dass Soraya bereit war, mit Ihnen zu reden?

Das erste Mal traf ich Soraya wenige Tage nach Gaddafis Tod. Sie war völlig durcheinander und verzweifelt. Sie sah den toten Gaddafi im Fernsehen und war gleichzeitig erleichtert, wütend und wahnsinnig enttäuscht. Dass er ihr nichts mehr würde antun können, hat sie befreit. Zugleich war sie furchtbar frustriert. Denn sie hatte jahrelang gehofft, eines Tages Gerechtigkeit zu erfahren, öffentlich, vor Gericht. Sie hatte sich vorgestellt, wie Gaddafi hinter Gittern und sie davor sein würde und dass sie ihm dann all das würde vorwerfen können, was er ihr angetan hat – die Gewalt, die Demütigung, dass er ihr Kindheit und Jugend geraubt hat. Mit seinem Tod war diese Hoffnung schlagartig dahin. Schlimmer noch: Ihr wurde bewusst, dass sie sogar fürchten musste, nicht als Opfer wahrgenommen zu werden, sondern als Schuldige – einfach weil sie in Bab al-Aziziya, Gaddafis Palast, gelebt hatte. Plötzlich hatte sie nicht nur Angst vor ihren Brüdern, wegen der Schande, sie hatte Angst vor den Gefolgsleuten Gaddafis, vor religiösen Extremisten und den Revolutionären. Während die Leute um sie herum feierten und jubelten, begriff sie, was auf sie zukam: Sie würde sich immer verstecken müssen.

 

Zur gleichen Zeit wie Soraya war ein Mädchen in Bab al-Aziziya, das im Alter von zwölf Jahren in Gaddafis »Harem« entführt worden war, ein anderes hat zwölf Jahre dort gelebt. Zurück in ihre Familien können diese Frauen nicht. Sie berichten von einer Medizinstudentin, die von Gaddafi vergewaltigt wurde – und sich jetzt prostituiert. Ist das der einzige Ausweg?

Dazu habe ich nur einzelne Zeugnisse, ich kann also nicht verallgemeinern. Aber tatsächlich arbeiten manche der vergewaltigten Frauen, die von ihren Familien verstoßen worden sind, als Prostituierte, besonders in Tripolis. Das ist für sie quasi die einzige Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Denn eine Frau, die weder verheiratet ist noch in ihrer Herkunftsfamilie lebt, ist suspekt, sie hat in der libyschen Gesellschaft keinen Platz.

 

Die libysche Partnerorganisation, mit der die deutsche Frauenorganisation AMICA seit September 2012 zusammen arbeitet, um Frauen zu unterstützen, denen während der Revolution sexuelle Gewalt angetan wurde, geht bis dato offiziell von 2.700 Opfern aus. Haben Sie Zahlenmaterial darüber, wie viele Frauen Gaddafi im Laufe der 42 Jahre seiner Herrschaft vergewaltigt hat?

Ich kann das natürlich nicht wirklich nachweisen, denn es gibt keine gesicherten Zahlen. Aber wenn man sich klar macht, dass Gaddafi von Beginn seiner Herrschaft an Sexualität und Vergewaltigungen als Machtmittel eingesetzt hat, und dass er in der Regel mehrere Frauen am Tag hatte – vor politischen Gesprächen, nach Sitzungen, manchmal mittendrin, für eine Viertelstunde – dann ist klar: Es müssen unzählige sein.

 

»Man hätte es sehen können«

 

Aber Gaddafi war ja mehr als ein Politiker, er hat sich als geistiger Führer inszeniert. Hat sich auch Soraya gefragt, wie er dieses Leben mit dem Koran vereinbaren kann?

Nun, er hat sich auch religiös als Führer präsentiert, öffentlich die Gebete gesprochen. Alles andere blieb im Verborgenen. Und wer etwas wusste, hat geschwiegen – aus Angst.

 

Wie lässt sich erklären, dass Frauen in Gaddafis System ihm seine Opfer zugeführt haben, wie etwa Mabrouka, die die entführten Frauen ihrerseits gequält hat?

Ich habe Mabrouka leider nicht getroffen, aber ich denke, sie ist ein spezieller Fall, eine unglaublich schillernde Figur. Sie hatte Macht über Gaddafi, sie hat ihm »Hexen« zugeführt – er hat sich ihr vor allem durch seinen Glauben an schwarze Magie ausgeliefert. Die meisten Frauen, die Gaddafi zugearbeitet haben, sind vorher selbst vergewaltigt worden. Für sie war es, weil ihre Familien sie verstoßen hatten, fast die einzige Form, zu überleben. Und wenn diese Frauen willig und angepasst waren, konnten sie sogar Vorteile aus dem System ziehen: Geld, eine Wohnung, ein Auto und Ähnliches.

 

Gaddafi muss aber auch etwas an sich gehabt haben, das die Frauen anzog: eine Art Aura oder Charisma.

Absolut. Als junger Mann hat er immerhin Kraft ausgestrahlt, eine Vision, er hat sich als der große Revolutionär präsentiert, als Befreier der Frauen – das hat viele fasziniert. Er hat es verstanden, zu manipulieren, zu verführen. Daher fühlten sich manche Frauen durch seine Aufmerksamkeit tatsächlich geschmeichelt.

 

Aber warum hat niemand das weit verzweigte Netz, über das er sich Frauen zuführen ließ, gesehen oder sehen wollen? Wie konnten sich die westlichen Medien und Politiker –Schröder, Blair, Sarkozy, Berlusconi – bei den Staatsbesuchen so täuschen lassen?

Ja, das ist schwer zu fassen. Es gab diese Faszination im Westen. Obwohl zum Beispiel das »Grüne Buch«, das Gaddafi als sein Evangelium ansah, eine Ansammlung von völlig grotesken Theorien ist. Man hätte sehen können, dass es schauerlich ist, was er verkündet.

 

»Es ist beschämend, dass immer wieder die Augen verschlossen wurden«

 

Das so genannte »Amazonenheer«, wie die internationale Presse die weiblichen Militärs, mit denen Gaddafi sich seit den 1980iger Jahren umgab, nannte, war Ihrem Buch zufolge ein geschickter Schachzug, der im Ausland für Furore gesorgt hat, im Land selbst aber nie wirklich akzeptiert wurde.

Auch wenn er sich modern, großzügig und volksnah inszenierte, war Gaddafi ein Despot, der Terroristen unterstützt und sein Volk unterdrückt hat. Aber im Westen waren die Medien, vor allem die linken, auch universitäre Kreise, wie geblendet. Die Art, wie man die Augen verschlossen hat und immer wieder verschließt, ist beschämend – insbesondere, was die Situation der Frauen angeht. Und das gilt nicht nur für Libyen. Man spricht entweder gar nicht drüber, als sei es nicht wichtig, oder es wird fast komplizenhaft belächelt, nach dem Motto: Macht und Sex gehören nun mal zusammen. Ich finde das empörend!

 

Wie schätzen Sie die Wirkung Ihres Buches ein? Wird es etwas verändern können?

Es wird immerhin wahrgenommen und sehr ernsthaft diskutiert. Hier in Frankreich etwa hat Außenminister Laurent Fabius es gelesen und öffentlich erwähnt. Und am 8. März, dem Internationalen Frauentag, gab es in Paris eine Konferenz der UNESCO, an der Politiker aus Tunesien, Ägypten und anderen arabischen Ländern teilgenommen haben. Der libysche Botschafter bei der UNESCO hat mir gesagt, er sei total schockiert und hätte von diesen Gräueltaten nichts gewusst.

 

Wussten libysche Diplomaten wirklich nichts?

Sie ahnten und sie wussten vieles – aber nicht diese schrecklichen Details. Sie sind nie in diesem Keller gewesen, in dem Gaddafi die Frauen gefangen hielt und gequält hat.

 

Ihr Buch wurde auch ins Arabische übersetzt und hat sich im arabischen Raum schon 7.000 Mal verkauft. Ist es auch ein Signal? Glauben Sie, dass die Situation der Frauen sich in Libyen verbessern wird?

Ich war seit einem Jahr nicht mehr in Libyen. Und auch wenn Gaddafi tot ist, sind die Ideen und die Werte immer noch in den Köpfen der Menschen. Eine Kultur zu ändern, das braucht Zeit. Und noch herrscht Angst, ja. Aber ich habe doch Hoffnung, denn es gibt auch den Mut jener Frauen, die mit meinem Buch auf die Straße gegangen sind und vor dem Parlament damit demonstriert haben.


Annick Cojean, 1957 in Brest geboren, arbeitet als Journalistin für Le Monde und das französische Fernsehen. Sie hat mehrere Bücher veröffentlicht und präsentiert die Dokumentationsreihe »Empreintes« auf dem Sender France 5. 1996 erhielt sie den Albert-Londres Preis für ein Buch über Überlebende des Holocaust.

Von: 
Gabriele Michel

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.