Die türkische Journalistin Ece Temelkuran fiel der Zensurpolitik der Regierung zum Opfer. Im Interview mit zenith spricht sie über sich verschiebende rote Linien, das Erfolgsgeheimnis des Präsidenten und warum die Türkei einem Schweizer Käse ähnelt.
zenith: Frau Temelkuran, Sie waren bis 2011 Angestellte des türkischen Medienunternehmens Habertürk und moderierten Ihre eigene Sendung auf Habertürk TV – was geschah dann?
Ece Temelkuran: Ich veröffentlichte zwei Artikel, die dem damaligen Ministerpräsidenten Erdoğan nicht gefielen. Einer war über das Massaker von Uludere: Dort, an der türkisch-irakischen Grenze, wurden 2011 über 30 Jugendliche von der türkischen Luftwaffe getötet, da der Geheimdienst sie für Terroristen gehalten hatte. Der andere hieß »Sir, yes, Sir« und kritisierte Erdoğans Umgang mit dem Zwischenfall: Er hatte der Presse verboten, über den Zwischenfall zu berichten, bis er eine offizielle Version der Hergänge herausgibt. Kurz nach den beiden Artikeln erhielt ich einen Anruf von meinem Chefredakteur, er sagte nur: »Vielen Dank, Ece, wir haben gern mit dir gearbeitet.«
War das eine Entscheidung des Herausgebers oder hat sich die Regierung tatsächlich eingemischt?
Schwer zu sagen. In der Türkei hat sich ein System der Selbstzensur entwickelt; da bedarf es gar nicht mehr eines Anrufs durch Erdoğan oder einen Vertreter, um jemanden zu feuern – die Herausgeber wissen, wann sie das zu tun haben. Meine Artikel über Uludere waren nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ich hatte bereits über die hohe Zahl inhaftierter Journalisten in der Türkei geschrieben, ein weiteres Tabuthema.
Hat die Pressefreiheit von Beginn an unter Recep Tayyip Erdoğans Führung gelitten?
Er hat zumindest von Anfang an versucht, sie zu beschneiden und zu bestimmen, worüber geschrieben werden darf. Mit der Zeit baute er seine Macht aus. Uns Journalisten ist bewusst, dass er oder seine Mittelsmänner hinter vielen Kündigungen stecken. Viele kommen sogar ins Gefängnis, ich hatte Glück.
Dennoch: Bereits vor Erdoğan waren die »kurdische Sache« und der armenische Genozid doch Tabuthemen in der türkischen Öffentlichkeit.
Das ist wahr. Vorher war es das Militär, das seit dem Coup 1980 als eine Art Zensurbehörde fungierte. Das Kuriose an der Zensur in der Türkei ist ja, dass man nie weiß, ob ein Thema gerade tabu ist. Wenn die Regierung beschließt, dass sie eine »kurdische Öffnung« machen will – so haben sie das selbst genannt –, dann sollen wir auf einmal darüber berichten. Das Gleiche bei Armenien. Die rote Linie verschiebt sich täglich, man weiß nie, ob man sich in die Nesseln setzt.
Im Ausland wurde Erdoğan zu Beginn seiner Amtszeit gepriesen für seine Demokratisierungsansätze. Seine Regierung galt als Vorbild für gemäßigt-islamische Demokratien.
Erdoğan ist ein Blender und hat sich geschickt inszeniert als Vertreter aller benachteiligten Minderheiten in der Türkei. Dabei hat er überhaupt kein Verständnis von Demokratie oder Multikulturalismus. Seltsamerweise haben viele Intellektuelle in der Türkei wohl geglaubt, dass seine rechtskonservative Regierung eine fortschrittliche Demokratie begründen kann – als wäre dies jemals geschehen in der Menschheitsgeschichte. Nach und nach ließ Erdoğan seine Maske dann fallen, mittlerweile ist dieses Land eine One-Man-Show und er macht, was er will.
Gerade im Sommer hat er wieder einen Wahlsieg davongetragen und ist nun Staatspräsident. Trotz der Proteste um den Gezi-Park vergangenes Jahr – oder gerade deswegen?
Schwer zu sagen. Es ist nicht so, dass Erdoğans Wählerschaft wächst, aber er hat eine treue Anhängerschaft. Er steuert den Hass oder die Angst der Unterschicht, vielleicht sind es auch persönliches Charisma oder sozioökonomische Gründe. Erdoğan kontrolliert jetzt sämtliche Verfassungsorgane; wenn er etwas will, gibt es niemanden mehr, der sich ihm in den Weg stellen könnte. Ohne Probleme wird er die Verfassung ändern und eine präsidiale Demokratie aus der Türkei machen können.
Ece Temelkuran
wurde 1973 in Izmir geboren. Nach ihrem Jurastudium arbeitete sie als Journalistin für verschiedene türkische Medien. Sie hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt erschien auf Deutsch ihr Roman »Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann« (übersetzt von Johannes Neuner, Hamburg 2014, 400 Seiten, 22 Euro).
Es wäre also vorzuziehen, dass das Militär noch die Stärke hätte, als Hüter der Verfassung einzuschreiten?
Menschen außerhalb der Türkei scheinen zu denken, es gäbe nur diese beiden Alternativen für unser Land: entweder eine Militärdiktatur oder einen Autokraten wie Erdoğan. Dass es noch einen anderen Weg gibt, haben die Gezi-Proteste gezeigt: Das türkische Volk kann und will mitbestimmen.
Tatsächlich? Dafür wurde es aber schnell ruhig um die Bewegung, nachdem der Gezi-Park geräumt war.
Die Gezi-Bewegung leidet an der gleichen Schwäche wie die Occupy-Bewegung in Griechenland und Spanien: Sie rühmt sich, unorganisiert und unideologisch zu sein, aber genau diese Diffusität schwächt ihr Potential. Wir können die Kräfte nicht bündeln, weil kein klares Ziel definiert wird. gerade tabu ist«
»Jeder hasst jeden in der Türkei. Und Erdoğan schürt das Feuer weiter«
Man müsste also sagen: Das türkische Volk will mitbestimmen – aber es hat keine klare Meinung.
Es gibt eine breite Opposition gegen die AKP, aber unsere Gesellschaft ist tief gespalten. Jeder hasst jeden und Erdoğan schürt das Feuer weiter. Es ist, als würde unter der Oberfläche ein Bürgerkrieg wüten, nur hat noch niemand die erste Kugel abgefeuert. Seit 30 Jahren führt dieses Land einen Krieg in den kurdischen Gebieten, eine ganze Generation von Männern leidet unter Kriegstraumata. Aber niemand spricht darüber – es wird getan, als fände dieser Kampf nicht statt. Es gibt Spannungen mit Kurden, Armeniern, religiösen Minderheiten und zu guter Letzt nun auch noch zwischen AKP-Wählern und Nicht-AKP-Wählern.
Wie wird sich die Türkei in nächster Zeit entwickeln?
Ich erwarte nicht viel in naher Zukunft. Mit allen Nachbarstaaten haben wir uns überworfen, unsere Grenzen ähneln gleichzeitig einem Schweizer Käse: Jeder kann ein- und ausreisen, wie es ihm beliebt. Das Land ist voll von »Islamischer Staat«-Kämpfern, aber wir dürfen nicht über sie schreiben. Unser neuer Ministerpräsident vertuscht die Gefahr, bezeichnet IS nicht als Terroristen, sondern als »frustrierte Jugendliche«. Über eine Annäherung an die Europäische Union macht sich selbst der ehemalige Minister für EU-Angelegenheiten öffentlich lustig.
Das klingt düster. Haben Sie keine Hoffnung auf Veränderung?
Ich habe eine Idee, einen Plan, den ich »Al-Andalus Reloaded« nenne : Junge Menschen aus unserer Region, dem Nahen Osten und der Türkei, sollten sich zusammenschließen mit der neuen Generation von Europäern, die gegen den Kapitalismus sind und die Grenzen der repräsentativen Demokratie erkannt haben. Gemeinsam sollten sie eine neue Weltordnung entwerfen. Das klingt jetzt wie eine Utopie, aber ich denke, dies geschieht bereits in den sozialen Medien: Die Leute tauschen sich aus. Es müsste nur jemand das Ganze auf eine neue Ebene heben.
Und wie sieht diese »neue Weltordnung« Ihrer Meinung nach aus?
Aufklärerische Werte im Sinne von »europäischen Werten« wurden zu viel kritisiert, sie wurden mit der Zeit als Quelle alles Bösen betrachtet, und mit ihnen Menschenrechte und »Moderne». Aber ich glaube, diese Werte werden ein Comeback erleben in der Türkei und der arabischen Welt. Die Proteste auf dem Tahrir-Platz in Kairo, im Gezi-Park und anderswo zeigen doch deutlich: Die Menschen haben mit der Postmoderne abgeschlossen und streben nach Gerechtigkeit und Gleichheit.